Was bewirken die Sanktionen gegen Russland?

In diesem C! Artikel wirft Prof. Gabriel Felbermayr, Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung (WIFO), einen Blick auf die Frage: 

Was bewirken die Sanktionen gegen Russland?

Nachdem am 24. Februar 2022 die Armee der russischen Föderation in der Ukraine einmarschiert ist, haben westliche Staaten – die EU, das Vereinigte Königreich, die USA, Kanada, die Schweiz, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland – Sanktionen eingeführt und in mehreren Runden verschärft. Die Sanktionen haben das Ziel, Russland zu zwingen, den Krieg in der Ukraine zu beenden.

Sanktionen entfalten ihre wahre Wirkung während der Drohphase und nicht, wenn sie verhängt werden.

Die Sanktionsdrohung hätte eigentlich bereits vor dem Einmarsch wirken müssen, denn Sanktionen entfalten ihre wahre Wirkung während der Drohphase und nicht, wenn sie verhängt werden. Die Drohung mit einer negativen Sanktion kann, wenn die angekündigte Maßnahme richtig kalibriert ist, das Verhalten des Ziellandes ändern, weil sich sein Nutzenkalkül verändert. Offenbar hatte die russische Führung trotz der erwarteten Sanktionen im Angriffskrieg aber höhere Nutzen als Kosten gesehen und trotz Sanktionsdrohung das geltende Völkerrecht gebrochen.

Eine Rücknahme [der Sanktionen] würde den Angriffskrieg Russlands erst recht einträglich für die russische Führung machen. Wichtiger noch: Die Glaubwürdigkeit der nächsten impliziten oder expliziten Sanktionsdrohung wäre dahin.

Es ist natürlich möglich, dass sich Russland verkalkuliert hat, in dem es die Härte der westlichen Sanktionen unterschätzte. Es ist allerdings analytisch zielführender, der russischen Führung zu unterstellen, sie hätte die Sanktionen im Großen und Ganzen vorhergesehen. Dann wäre es nicht zu erwarten, dass Russland sich wegen der Verhängung der Sanktionen aus den eroberten Gebieten wieder zurückzieht. Dennoch ist es erforderlich, dass die westlichen Sanktionen bestehen bleiben. Eine Rücknahme würde den Angriffskrieg Russlands erst recht einträglich für die russische Führung machen. Wichtiger noch: Die Glaubwürdigkeit der nächsten impliziten oder expliziten Sanktionsdrohung wäre dahin.
Die Sanktionen enthalten Exportverbote für Güter und Technologie, die für militärische Zwecke gebraucht werden können, preisliche Beschränkungen, die den Import von Erdöl und Erdgas betreffen, Einschränkungen im Geschäftsverkehr zwischen Finanzinstitutionen, Reiseverbote für eine lange Liste von Personen und das Einfrieren von Auslandsvermögen der russischen Zentralbank sowie von russischen Firmen und Personen. Damit wird das nach der Annexion der Krim verhängte Sanktionsregime deutlich verschärft. Russland hat mit Gegenmaßnahmen reagiert, die in einer graduellen Reduktion der Gasexporte in die EU27 bestanden.

Im Zeitraum Februar 2022 bis Oktober 2022 gingen die importierten und die exportierten Mengen im Russlandhandel um jeweils circa 50% zurück.

Aktuell liegen laut Angaben des Thinktanks Bruegel die Gaslieferungen in die EU bei etwa einem Achtel bis einem Sechstel des bisher üblichen Wertes.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der verhängten Sanktionen sind deutlich. Im Zeitraum Februar 2022 bis Oktober 2022[1]  gingen die importierten und die exportierten Mengen im Russlandhandel um jeweils circa 50% zurück; die Exporte schneller als die Importe (die vor allem aus Energielieferungen bestehen, auf die die EU zunächst keine Sanktionen erhob).
Die Exporte scheinen sich bei 50% einzupendeln, während der Trend bei den Importen weiterhin negativ ist. In laufenden Euro gerechnet sieht das Bild bei den Exporten sehr ähnlich aus, während der Wert der Importe sich bis zum Kriegsbeginn vom Tiefpunkt im April 2020 mehr als vervierfachte. Der Grund liegt im starken Anstieg der Preise für Rohöl und vor allem für Erdgas, die sich nach dem Corona-Schock und einer überraschend starken weltweiten Nachfrage im Jahr 2021 stark erholten. Weil die europäischen Exporte schnell einbrachen und es hier keine kompensierenden Preiseffekte gab, verschlechterte sich zunächst die bilaterale Handelsbilanz der EU mit Russland deutlich.

Monatlicher Außenhandel der EU27 mit Russland

Dieses empirische Bild passt gut zu den Erwartungen, die mit Hilfe der existierenden Literatur gebildet werden können.[2] Umfassende Handelssanktionen reduzieren den Güterhandel um etwa 75% innerhalb eines Jahres; partielle Sanktionen weniger. Im Vergleich kann das Sanktionsregime gegen Russland als mittelmäßig streng gelten. Solange das Sanktionsregime des Westens wichtige Importgüter Russlands wie etwa Pharmaprodukte nicht mit Exportverboten belegt, werden die Exporte nicht weiter einbrechen. Der deutliche Rückgang der Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas wird aber zu einer deutlichen Reduktion des Handelsbilanzüberschusses Russlands mit der EU führen.

Die russische Ölsorte Urals wird seit April 2022 zwischen 35 und 22 US-Dollar pro Fass billiger gehandelt als die vergleichbare Nordsee-Ölsorte Brent.

Betrachtet man den Außenhandel der EU in breiten Gütergruppen, so ist festzustellen, dass fast überall die Importe stark zurückgegangen sind, wenn man die Werte des letztverfügbaren Monats Oktober 2022 mit jenen des Februars 2022 vergleicht. Im Bereich der mineralischen Brennstoffe sind die Effekte am schwächsten ausgeprägt – der Importwert beträgt im Oktober 68 % des Wertes vom Februar (saisonal und kalendarisch bereinigt); diese Produktgruppe dominiert die EU-Importe aus Russland.
Bei den Exporten der EU ist die Lage etwas durchwachsener. Hier zeigt sich, dass die Exporte der EU im Chemiebereich (hier besonders in der Pharmaindustrie) deutlich weniger eingebrochen sind als etwa im Maschinen- und Fahrzeugbau oder im Bereich der bearbeiteten Waren. Hier prägen die Gegensanktionen Russlands das Geschehen. Dort, wo beide Parteien keine Maßnahmen ergriffen haben, leidet der Handel am wenigsten stark.
Dass die Sanktionen wirtschaftlich wirken, sieht man auch an der Tatsache, dass die russische Ölsorte Urals seit April 2022 zwischen 35 und 22 US-Dollar pro Fass billiger gehandelt wird als die vergleichbare Nordsee-Ölsorte Brent.

Veränderung des Außenhandels der EU27 mit Russland Okt. 2022 relativ zu Okt. 2021, in Prozent

China scheint nicht im großen Ausmaß als Ersatzmarkt einzuspringen, weil dafür die Transportkapazitäten fehlen.

Neben der Wirkung der Sanktionen auf den bilateralen Handel Russlands mit den sanktionierenden Ländern stellt sich die Frage, ob Russland auf andere Märkte ausweichen kann, um die Sanktionen des Westens zu umgehen. Schließlich umfasst die Liste der sanktionierenden Länder wichtige Handelspartner Russlands wie die Türkei, Indien oder China nicht. Die Entwicklungsländer haben sich komplett der Sanktionen enthalten. Es ist daher zu erwarten, dass es zu einer Handelsumlenkung zugunsten dieser Länder kommt. Bisher ist der Effekt vor allem im Bereich des Handels mit Rohöl sichtbar; hier ist vor allem mit Indien ein großer neuer Käufer aufgetaucht.[3] China scheint nicht im großen Ausmaß als Ersatzmarkt einzuspringen, weil dafür die Transportkapazitäten fehlen. Daten über globale Schiffsbewegungen sprechen hier eine klare Sprache.[4] Die Koalition der sanktionierenden Länder versucht, ihre Sanktionen zu extraterritorialisieren, in dem sie Finanz- oder Versicherungsdienstleistungen, die für die Abwicklung von Geschäften Dritter mit Russland erforderlich sind, sanktioniert. Sie könnte noch weiter gehen und auch Länder sanktionieren, die weiterhin mit Russland Handel treiben. Das würde vermutlich zu Gegenreaktionen der Drittstaaten führen und ist daher potenziell gefährlich.
Aber die Handelsumlenkungseffekte könnten die Vernichtung von Handel zwischen Russland und den traditionellen Partnerländern nicht kompensieren. Das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil Russland wohl schon vor den Sanktionen mit Indien Geschäfte abgewickelt hätte, wenn das für beide Seiten lukrativer gewesen wäre. Mit Kollegen habe ich Modellsimulationen angestellt, die zeigen, welche Effekte eine Entkoppelung der russischen Wirtschaft von jener der sanktionierenden Länder in langer Frist haben wird.[5]

Langfristige Effekte eines vollständigen Decouplings von Russland

Die Handelsumlenkung kann die Handelszerstörung durch die Sanktionen nicht aufwiegen.

Erstens zeigt sich, dass der bilaterale Handel fast zur Gänze verschwinden würde. Das geht über die bisher tatsächlich zu beobachtenden Effekte hinaus, weil die Unterstellung in der Simulation jene einer völligen Handelsunterbrechung ist. In dieser Situation kommt es langfristig zu erheblicher Handelsumlenkung. Die Exporte Russlands in Drittstaaten würden um fast 60% zulegen (allerdings von oft niedrigen Niveaus ausgehend), die Exporte der sanktionierenden Länder blieben hingegen weitgehend unverändert. Die Importe Russlands aus Drittstaaten (vor allem China) würden sogar sinken, weil die Sanktionen Russland langfristig wirtschaftlich schaden. Daher sind die Einkommen Russlands kleiner und die Nachfrage nach Gütern insgesamt geringer. Die sanktionierende Koalition würde hingegen mehr aus Drittländern einkaufen – vor allem Rohstoffe. Der Gesamteffekt bliebe aber überschaubar. Die Gesamtexporte Russlands würden um circa 45% fallen. Das zeigt, dass die Handelsumlenkung die Handelszerstörung durch die Sanktionen nicht aufwiegen kann. Daraus resultiert dann auch eine Verringerung des realen Pro-Kopf-Einkommens um fast 10%. Auch die sanktionierende Koalition muss mit insgesamt geringeren Exporten rechnen; die Einkommenseffekte wären mithin ebenfalls negativ, aber, in Prozentpunkten betrachtet, um den Faktor 50 kleiner.

Obwohl die Koalition der sanktionierenden Länder relativ klein ist, fügen die Maßnahmen des Westens Russland in der langen Frist erheblichen Schaden zu. Im Jahr 2022 wird mit einer Schrumpfung der russischen Wirtschaft um etwa 3,5% gerechnet, im Jahr danach um etwa 2,5%. Ohne die Sanktionen wäre sie vermutlich gewachsen, kumulativ sind 2022 und 2023 4% realistisch. Damit zeigt sich, dass die simulierten 10% Einbruch der Wirtschaftsleistung durchaus plausibel sind.
Unsere Analyse zeigt allerdings auch, dass innerhalb der Koalition der sanktionierenden Länder starke Heterogenitäten existieren. So liegt der langfristige Schaden im Baltikum bei circa 2% der Wirtschaftsleistung pro Kopf, in Norwegen steigt sie hingegen (aufgrund positiver Handelsumlenkungseffekte) um fast 1%. Deutschland hätte langfristig mit einem Schaden von 0,4% zu rechnen. Die USA kommen hingegen ohne Nachteile aus dem Wirtschaftskrieg.

Anmerkungen

[1] Es handelt sich hierbei um die letztverfügbaren Daten zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Artikels.
[2] Mian Dai, Gabriel Felbermayr, Aleksandra Kirilakha, Constantinos Syropoulos, Erdal Yalcin und Yoto V. Yotov, Timing the Impact of sanctions on trade, in: The Research Handbook on Economic Sanctions, hg. von Peter Bergeijk, Cheltenham 2021.
[3] Zsolt Darvas und Catarina Martins, The impact of the Ukraine crisis on international trade, Bruegel Working Paper 20/2022.
[4] Siehe zum Beispiel den Kiel Institute Trade Indicator.
[5] Gabriel Felbermayr, Hendrik Mahlkow und Alexander Sandkamp, Cutting through the value chain: The long-run effects of decoupling the East from the West, Empirica (2023), im Erscheinen.

Mehr zum Thema erfahren Sie in der neuen CONVOCO! Edition, die im März 2023 erscheint.

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